Die Versuchung, der Sündenfall oder: Was war tatsächlich der Baum der Erkenntnis?

Im Turmbau zu Babel habt ihr ja schon von meinen Übersetzungsideen der Metaphern des Alten Testaments erfahren. Hier geht es nun um eine der Hauptgeschichten, um ein Thema, das immer wieder bemüht wird – aber sich tatsächlich immer nur um die wörtliche Bedeutung, die Kleidung dreht, nie um ein mögliches Sinnbild. „Nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, wurden sie gewahr, dass sie nackt waren und bekleideten sich.“ Vor ein paar Tagen fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Es geht nicht um unseren Körper, sondern um unseren Geist, um unsere Gedanken…

Ist Bekleidung nicht oft ein Sinnbild für Schutz? So waren Ritter seinerzeit mit einer Rüstung bekleidet, wenn sie in den Kampf zogen. Fühlen sich viele Menschen nicht schutzlos, gedemütigt oder bloßgestellt, wenn sie sich vor anderen Menschen ausziehen müssen? Früher wurden Menschen am Pranger öffentlich zur Schau gestellt. Wie viel schlimmer war das für die Menschen, wenn sie dabei nackt waren, also keine äußerlichen Geheimnisse mehr hatten, sondern jeder alles sehen konnte?

Lasst uns nun in die geistige Welt wechseln, in die Welt unserer Gedanken. Würdet ihr sofort jeden in euren Kopf schauen lassen? Wie wäre es, wenn jemand in eure Gedanken eintauchen und sie vollständig lesen könnte? Eure Geheimnisse, eure Erlebnisse, eure Phantasien?
Was wäre das für eine Welt, wenn ihr eure Gedanken – wie es übrigens bei kleinen Kindern noch ist – offen auf den Lippen tragen würdet? Ist es nicht gerade so, dass wir ihnen beibringen, manche Gedanken lieber für sich zu behalten, „gute Geheimnisse“ zu bewahren? Wie auch beim Turmbau zu Babel könnte hier eine Geschichte erzählt werden, die jeder von uns selbst durchlebt.

Ja, tatsächlich kann man sich nicht nur körperlich „nackt“ machen, sondern auch geistig. Wir könnten anderen erlauben, in unseren Geist zu blicken. Uns innerlich für den anderen „nackt“ zu machen und ihm alles zu zeigen, was uns ausmacht. Sei es durch telepathischen Zugriff oder schlicht und einfach durch offene, ehrliche Kommunikation. Mir ist es in der Tat durch Ersteres so ergangen. Plötzlich entstand da der Wunsch, mich zu öffnen, alles zu zeigen. Der Gedanke dabei war „Ich mach mich nackt, ich zeige alles…“ – und das hatte nichts mit Exhibitionismus zu tun, Da fiel der Groschen und ich verstand, welche Erkenntnis „der Baum“ tatsächlich vermittelte.

Kann es sein, dass ein jeder Mensch – bewusst oder unbewusst – die Erfahrung macht, dass offene Gedanken in unserer Welt nicht gut sind?
Wenn wir jemandem offen unsere Meinung über ihn sagen, könnten wir ihn damit verletzen oder würde er es verstehen? Wie oft geht ihr selbst in Abwehrhaltung, wenn ihr meint, jemand könnte euch kritisieren – anstatt zunächst einmal objektiv darüber nachzudenken, was er meint und es tatsächlich als Hilfe zu betrachten?
Wenn wir anderen ein Geheimnis über jemand anderen verraten, bekommt er dann Schwierigkeiten?
Wenn wir anderen erzählen, was wirklich in uns vorgeht, machen wir uns dann selbst angreifbar?
Ja, solche Überlegungen könnte die legendäre Schlange uns Menschen aufgezeigt haben – wir selbst zeigen diese Gedanken unseren Kindern immer wieder neu auf und mit unserem Verhalten beweisen wir, dass es sich genau so verhält.

Aber wie wäre die Welt, wenn wir auf Menschen treffen würden, bei denen wir solche Bedenken nicht mehr haben müssten? Menschen, bei denen wir offen wir selbst sein und selbst Unbequemes oder Heimliches einfach frei aussprechen könnten? Menschen, bei denen kein politisches Kalkül erforderlich ist, Menschen, die selbst auch kein politisches Kalkül haben, um bestimmte Reaktionen zu erzeugen und bei denen man keine Angst haben muss, sie durch Ehrlichkeit zu verletzten.
Wie einfach wäre es, wenn unser Gegenüber erst einmal alles genauso annehmen könnte, wie es gesagt wurde? Kein Zwischen-den-Zeilen-lesen, keine Interpretation oder Wertung. keine Kritik an der eigenen Person? Etwas „gleich-gültig“ zu betrachten ist eine enorme Herausforderung, denn man muss alle Filter ablegen. Vielleicht ja so, wie wir es beim Feedbacknehmen lernen: Es geht nicht gegen jemanden persönlich, wir beschreiben ja immer nur unseren eigenen subjektiven Eindruck….

Wenn die Welt wirklich wieder so wäre, wir nur noch unter echten und authentischen Menschen wären, wo wir alle so offen sein können (und sind) – wären wir dann wieder näher am Paradies?

Auch hier dürft Ihr mir gern eure Meinungen und spontanen Gedanken zukommen lassen… ihr wisst schon: über die Kontaktseite.

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